Katharina Lankers
Autorin

(erschienen 2015 im FeuerwerkeVerlag. Alle weiteren Infos zum Roman gibt es hier)
© 2015    

Der Himmel über München

Leseprobe: Anfang des Romans

 ***

Xerxes und Spekulatius, die beiden Schutzengel, saßen am Rand einer ausgefransten Wolke und schauten interessiert nach unten. Dort überquerte gerade ein junger Mann im morgendlichen Sonnenschein die Straße und begab sich zur nahe gelegenen Haltestelle. Mit einem Klingeln näherte sich die blau-weiße Trambahn, ihr Rattern und Scheppern hallte in der Straßenschlucht der Sendlinger Altbauten wieder. Ein verträumtes Lächeln lag auf dem Gesicht des jungen Mannes, als er mit einer Tasche voller Bücher in die Straßenbahn einstieg.

Spekulatius lehnte sich zurück.

„Und, wie fandest du die erste Begegnung von unseren Beiden?“, fragte er seinen Kumpel.

„Schon ganz vielversprechend“, erwiderte Xerxes. „Schau’n wir mal, was sie draus machen!“

***

Sommer 1983

Theresa stand verschlafen vor dem hohen Doppelfenster, das die hereinfallende Julisonne ganz fleckig aussehen ließ, und sah hinunter auf die Straßenbahnschienen. Da ging er über die Straße, ihr Simon, da blieb er stehen an der Haltestelle. Hoch gewachsen, kurzes Haar, schöne blaue Augen, tolle Figur. Genau 80 Kilo schwer – 80 Kilogramm wunderbar kräftiger, weicher, starker, zärtlicher, muskulöser Männerkörper, den sie eine ganze Nacht lang hatte genießen dürfen. Nach vielen Tagen sehnsüchtigen Wartens und Hoffens, seitdem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Es hatte sofort gefunkt – nein, es war eingeschlagen wie ein Blitz, als sie ihn gesehen hatte. Ihn, den neuen WG-Mitbewohner ihrer Lieblingstante Dagmar, von dem sie vorher nur am Telefon gehört hatte: 22 Jahre alt, Mathe-und-Physik-Student, aus dem Berchtesgadener Land. Sozusagen ein Hinterwäldler, hatte sie gedacht. Wer konnte schon wissen, dass er dermaßen gut aussah und dazu auch noch so verdammt nett war! Sie hatte sich gar nicht satt sehen können an ihm. All die Sommerferientage lang, die sie hier in München verbrachte, war sie jede Minute gespannt darauf gewesen, ihn zur Haustür hereinkommen zu hören, ihm in der Wohnküche zu begegnen für ein unauffälliges Schwätzchen, bei dem es in ihrem ganzen Körper knisterte und prickelte. Sie war sich sicher, dass die Funken nicht nur von ihrer Seite flogen, wenn sie sich anschauten. Doch wie schwer war es gewesen, einen Weg zu finden, mit ihm allein zu sein! Und wie lange sie an diesem letzten Abend gewartet hatte, bis endlich alle anderen im Bett waren, und bis er endlich, endlich tatsächlich zu ihr in die Küche kam!

Die Straßenbahn mit Simon fuhr ratternd um die Ecke und entschwand ihrem Blick. Theresa drehte sich um und tappte mit nackten Füßen über den staubigen Parkettboden zurück zu Simons zerwühltem Bett. Eine schmale Matratze auf dem Boden, 90 Zentimeter, ziemlich eng für zwei. Doch sie hätte keinen Millimeter breiter sein sollen diese Nacht! Theresa kuschelte sich in die noch warme Decke und atmete tief den Geruch von Simon und frischer Liebe ein. Wann sie ihn wohl wieder sehen würde?

***

Er sah die Sonnenstrahlen lustig über das Pflaster tanzen; Menschen blinzelten lächelnd in das helle Morgenlicht. Das aufgemalte „Münchner Kindl“ außen am Wagen, das sich in den Schaufenstern spiegelte, breitete einladend die Arme aus. Die ganze Stadt kam Simon heute freundlich und fröhlich vor, während er in der ruckelnden Straßenbahn saß und Richtung Uni fuhr. Kaum zu glauben: gleich war die Mathe-Klausur zum Abschluss des zweiten Semesters, Analysis 2. Wie konnte man nach so einer Nacht eine Mathe-Klausur schreiben? Nein, wie konnte man sich vor einer Prüfung auf so eine Nacht einlassen? Kopfschüttelnd grinste Simon in sich hinein – diese blöde Klausur war völlig belanglos gegen das, was er erlebt hatte! Er hätte ja gestern Abend auch vernünftig sein und schlafen gehen können. Er hatte es sogar versucht. Aber die Vorstellung, dass Theresa noch dort in der Küche saß, dass sie vielleicht sogar auf ihn wartete... nein, er hatte nicht widerstehen können. Schließlich musste sie heute wieder nach Hause, fuhr hunderte Kilometer zurück nach Bonn, Lichtjahre entfernt. Es war die letzte Gelegenheit gewesen für ein Zusammensein, und so war er schließlich, als die Zimmer der anderen Mitbewohner in Dunkelheit getaucht waren, zu ihr in die Küche gegangen.

Theresa... er schloss die Augen und betrachtete ihr Bild aus seiner frischen Erinnerung. Das schmale Gesicht mit den dunklen Augen und vielen Sommersprossen, die langen rotbraunen Haare, der schlanke zarte Körperbau. Süße 18 Jahre war sie alt, auf dem Weg in die zwölfte Klasse. Ob er sich wohl sehr blöd angestellt hatte? Das erste Mal eine Frau – sie hatte da ganz offensichtlich schon mehr Erfahrung. Aber wie sie ihn im Arm gehalten hatte beim Abschied, ihn gar nicht mehr loslassen wollte... nein, das machte nicht den Eindruck, als wenn sie enttäuscht gewesen wäre!

Und jetzt fuhr er zu seiner dämlichen Klausur, und sie fuhr zurück in ihre dämliche Millionen Kilometer entfernte Stadt, um weiter zur Schule zu gehen. Hätten sie nicht einfach zusammenbleiben können?

***

Theresa lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe des Zugabteils und starrte hinaus. Wie durch einen Schleier flogen Bäume, Häuser, Berge, Täler an ihr vorbei. Mit jeder Sekunde entfernte sie sich von München. Fuhr weiter weg von Simon und dieser fantastischen letzten Nacht – der intensivsten, innigsten, aufregendsten Nacht, die sie je erlebt hatte. Sie konnte noch genau spüren, wie er sie im Arm gehalten hatte, wie seine Hände vorsichtig ihren Körper ertasteten, und wie ungewohnt weich seine Haut gewesen war. Wie geborgen sie sich in seinen Armen gefühlt hatte! Fast so, als wäre sie irgendwo angekommen. Merkwürdig – ein Gefühl, das sie mit Alex so noch nie gehabt hatte…

Alex – auweia. Sie biss sich auf die Lippen, hob den Kopf und nahm einen tiefen Atemzug – ein kläglicher Versuch, den Kloß in ihrem Hals aufzulösen, der sich zu verdichten schien, je länger sie fuhr. Sie kehrte aus einer komplett anderen Welt zurück in ihre alte, in eine Welt, die sie jetzt beängstigte. Eine Welt, in der Alex sie erwartete, voller Vorfreude, nichtsahnend! Seit fast zwei Jahren war sie schon mit ihm zusammen, und eigentlich war ihnen beiden klar gewesen, dass sie mal heiraten und Kinder kriegen würden – es war ihr so selbstverständlich erschienen. Jetzt konnte sie sich kaum etwas Absurderes vorstellen. Wie sollte sie ihm bloß gegenüber treten? Wie konnte das sein – sie hatte nur eine Woche Sommerferien bei ihrer Tante in München verbracht, und plötzlich leuchtete die ganze Welt in einem anderen Licht? Und der Junge, den sie vorletzte Woche noch heiraten wollte, schien ihr plötzlich ein Fremder zu sein.

Theresa schüttelte sich, um dieses grässliche Gefühl loszuwerden, und trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Vielleicht renkte sich ja auch alles wieder ein! Vielleicht brauchte sie Alex nur gegenüber zu stehen und alles wäre wieder beim Alten – ihr Treffen mit Simon nur eine Eskapade. Sie konnte es nicht glauben und wollte es eigentlich auch gar nicht. Andererseits – vielleicht würde Simon sie ja ganz schnell vergessen?

***

Die Klausur erlebte Simon wie in Trance. Irgendwie schaffte er es, ein paar Zahlen aufs Papier zu kritzeln. Epsilons und Deltas tanzten in den Formeln vor seinen Augen herum, und es war ihm völlig egal, ob seine Umformungen richtig waren oder nicht, und ob die Aufgabe damit gelöst war oder nicht. Er versuchte wirklich, sich zusammenzureißen, doch immer wieder ertappte er sich dabei, wie er mit einem wahrscheinlich ziemlich dämlichen Grinsen im Gesicht ins Leere starrte und der Erinnerung nachhing, wie wunderbar sich Theresas Haut unter seinen Fingern angefühlt und wie fantastisch sie geduftet hatte.

Als die Klausuren endlich eingesammelt wurden, beeilte sich Simon, aus dem Hörsaal zu kommen.

„Um zwoa am Ostbahnhof!“, rief er seinem erstaunt dreinblickenden Kumpel Andreas noch zu, mit dem er später gemeinsam ins heimatliche Berchtesgaden fahren würde. Jetzt wollte er schleunigst in die WG – es galt keine Zeit zu verlieren: vielleicht erwischte er Theresa ja noch, bevor sie sich auf den Rückweg machte? Unwahrscheinlich zwar, das wusste er – sie hatte doch einen Vormittagszug nehmen wollen, wenn er sich recht erinnerte. Aber vielleicht hatte er Glück. Es wäre zu schön, wenn er ihr noch einmal bei Tageslicht in die Augen schauen und sich vergewissern könnte, dass er die letzte Nacht nicht nur geträumt hatte und dass es irgendwann eine Fortsetzung geben könnte!

***

Als Theresa ihre Mutter am Bahnhof erblickte, bemühte sie sich, ein unverfängliches Lächeln aufzusetzen. Ob man ihr ansah, dass sie eine völlig andere war als noch vor einer Woche? Sie war froh, dass die Mutter sie auf der kurzen Autofahrt mit Erzählungen überhäufte und Theresa sich im Wesentlichen auf freundliches Schweigen und Nicken beschränken konnte.

„Alex erwartet dich schon sehnsüchtig!“ Theresa zuckte zusammen und spürte wieder die Panik in sich aufsteigen.

„Hmmm…“

„Du sollst ihn gleich anrufen, wenn du zuhause bist!“

„Ja klar, mach ich“. Das hatte hoffentlich normal geklungen. Theresas Fingerkuppen liefen weiß an, so fest hatte sie den Riemen ihres Rucksacks darum gewickelt. Ja, am besten würde sie die Konfrontation mit Alex gleich hinter sich bringen.

***

„Pfiati“, verabschiedete sich Simon von Andreas, als er ihn vor dessen Haustür absetzte. Die ganze Autofahrt über hatte er sich schweigsam gegeben, und Andreas war ein zu guter Kumpel, als dass er ihn mit Fragen bedrängt hätte.

Simon atmete auf, als sich die Beifahrertür hinter Andreas schloss, und machte sich dann auf, seinen orangefarbenen R4 das schmale Bergsträßchen hoch zu seinem Elternhaus zu quälen. Seine Mutter würde ihn sicher schon ungeduldig erwarten, mit Fragen löchern, und bestimmt hätte sie auch ein paar Vorwürfe parat. Warum er so spät kam, wieso er nicht vorher angerufen hatte, und und und… Er bog den holprigen Weg zur Auffahrt des Hauses ein, da sah er sie schon in der Tür stehen. Am liebsten hätte er gleich wieder kehrt gemacht. Zurück auf die Autobahn, an München vorbei, einfach Richtung Bonn – aber wer weiß, vielleicht wollte Theresa ihn gar nicht wiedersehen? Seufzend stieg er aus, griff seine Tasche vom Autorücksitz und begab sich in die Höhle der Löwin.

***

Spekulatius hatte die Flügel weit gespreizt, um auf dem Wolkenausguck besser das Gleichgewicht halten zu können.

„Also Feuer gefangen haben die Zwei schon mal!“, bemerkte er freudig. „Wenn sie beim nächsten Treffen ein bisschen mehr Vertrauen zueinander entwickeln, ergibt sich der Rest bestimmt ganz von selbst!“

Xerxes zog die Füße unter sein langes Gewand und grub die Zehen in das Watteweich darunter.

„Beim nächsten Treffen?“ Er wiegte sich nachdenklich hin und her. „Der Simon kann erst im Oktober wieder in München sein, wenn das neue Semester losgeht.“

„Ja, das passt doch perfekt!“, freute sich Spekulatius. „Dann hat die Theresa Herbstferien – da lässt sich bestimmt was arrangieren!“ Zufrieden faltete er die Flügel auf dem Rücken zusammen und ließ sich entspannt nach hinten sinken.

***

Zuhause kam Theresa alles merkwürdig vor. Ihr Zimmer im Elternhaus, die ewig gleichen Familienrituale, die Schule… Und natürlich war es auch komisch ohne Alex. Als sie ihm gegenüber gestanden hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass da nichts mehr zu retten war. Es war, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre in ihrem Inneren. Sie fühlte sich wie auf einem anderen Planeten, wie nach einer Begegnung der dritten Art, die sie in einen anderen Menschen verwandelt hatte. Alex‘ Verletztheit, seine Tränen und schließlich auch seine Wut waren gar nicht richtig an sie herangekommen – als ob eine Milchglasscheibe zwischen ihnen stand. Natürlich tat er ihr leid. Wie jemand einem leid tat, für den man nichts tun konnte. Sie versuchte, sich Szenen ihres Zusammenseins in Erinnerung zu rufen, um ihm wieder näher zu sein, aber alles sah nur so aus wie Schatten aus längst vergangenen Tagen. Es gab einfach kein Zurück mehr.

Es war seltsam, plötzlich so viel Zeit zu haben. Keine Nachmittage und Abende mehr, in denen es nur darum ging, ob sie sich bei ihr oder bei Alex trafen. Keine Tage mit lächerlichen Streits um Nichtigkeiten, wie sie es so oft in letzter Zeit gehabt hatten. Aber auch keine gemeinsamen Unternehmungen mehr, kein Sex, keine Zärtlichkeit. Erstaunlicherweise vermisste sie es nicht. Stattdessen traf sie sich endlich mal wieder mit ihren alten Freunden und konzentrierte sich ansonsten auf die Schule: jetzt konnte sie sich richtig ins Zeug legen, ohne ein schlechtes Gewissen Alex gegenüber zu haben, der immer ein bisschen hinterhergehinkt war. Vor allem in ihrem Mathe-Leistungskurs blühte sie auf. Der Stoff flog ihr zu: Vektorrechnung, Kurvendiskussionen und sogar die seltsamen Logarithmen sortierten sich vor ihr in übersichtliche Strukturen, so klar und verständlich, dass sie gar nicht recht begreifen konnte, wie andere Mitschüler die Logik und Schönheit der mathematischen Konzepte nicht wahrnahmen.

Immer wieder tauchte Simons Bild vor ihrem inneren Auge auf, und sie genoss das warme Gefühl, das sie durchströmte, wenn sie an seine Umarmung dachte. Einige Male telefonierte sie mit Dagmar und versuchte herauszuhören, ob Simon wohl in der WG war. Direkt zu fragen traute sie sich nicht: dass Simon und sie miteinander angebandelt hatten, hatte niemand mitbekommen in der Wohngemeinschaft, und irgendwie war es ihr peinlich, ihre Tante in ihre Liebesangelegenheiten einzuweihen. Dagmar war zwar nur knapp zehn Jahre älter, aber immerhin die jüngste Schwester von Theresas Vater, also quasi eine andere Generation. So gut sie sich auch verstanden - so etwas wie Liebe hatte noch nie zu den Gesprächsthemen zwischen ihnen gehört.

Doch Simon schien tatsächlich die ganzen Semesterferien zuhause in Berchtesgaden zu verbringen. Zu gerne hätte sie wenigstens mal seine Stimme gehört! Je mehr Zeit verstrich, desto unwirklicher kam ihr das Erlebte vor, und immer häufiger begann sie sich zu fragen, ob das alles mit ihm nur Einbildung gewesen war. Vielleicht konnte sie sich ja in den Herbstferien Gewissheit verschaffen, dass es ihn wirklich gab?

***

In seinem Elternhaus im Berchtesgadener Land versuchte Simon mühsam, sich auf das Lernen zu konzentrieren. Er ging die Bücher und Aufzeichnungen der letzten zwei Semester noch einmal durch, markierte mit Textmarker und rahmte die wichtigsten Sätze ein. Er sortierte die Aussagen über Vektorräume, Banach-Räume, Hilbert-Räume und wie sie alle hießen, kämpfte sich durch stetige, differenzierbare und invertierbare Funktionen. Im nächsten Sommer musste er den gesamten Stoff des Grundstudiums beherrschen und die Zwischenprüfung bestehen, da konnte es nicht schaden, rechtzeitig mit dem Wiederholen anzufangen. Zumal er keine Ahnung hatte, ob er die Analysis-2–Klausur bestanden hatte oder sie nochmal schreiben musste, um den Schein zu bekommen.

Wenn er vom Schreibtisch aufsah, konnte er durch sein Fenster die satten Farben seiner vertrauten Heimat sehen. Saftige Wiesen, dunkelgrüne Tannen und hinter dem Hügel die Ausläufer des Watzmann-Massivs. Vielleicht sollte er mal wieder hinaufsteigen, hoch in die frische klare Luft, wo ihm die Erde ausgebreitet zu Füßen lag und die alltäglichen Probleme so unwesentlich und klein erschienen. Und wo sein Blick noch viel weiter in die Ferne reichte, wo er sich vorstellen konnte, vielleicht sogar bis nach Bonn zu schauen! Bis hinein in ein unbekanntes Haus, in ein unbekanntes Zimmer – das Zimmer des unbekannten Mädchens, das ihm so den Kopf verdreht hatte. Ob Theresa wohl noch an ihn dachte? Oder war er nur eine Nummer auf ihrer Liste von Liebhabern gewesen? Er kannte sie ja kaum, hatte keine Ahnung, ob dieses Erlebnis mit ihm für sie auch nur annähernd so eindringlich gewesen war wie für ihn. Und hieß es nicht, sie hatte einen Freund? Dann hatte sie Simon wahrscheinlich sowieso schon längst vergessen.

Je mehr Zeit verstrich, desto mehr begann er zu zweifeln. War das alles wirklich passiert oder spielte ihm bloß seine Phantasie einen Streich? Zu gerne hätte er sie angerufen, um wenigstens mal ihre Stimme zu hören. Dafür müsste er bloß ihre Telefonnummer herausbekommen – das sollte nicht so schwierig sein. Aber dann wäre immer noch sehr fraglich, ob sie sich überhaupt freuen würde, ihn zu hören.

An manchen Tagen wäre er am liebsten wenigstens nach München gefahren. Hätte in seinem WG-Zimmer die schmale Matratze betrachtet und die Erinnerung an diese einzigartige Julinacht heraufbeschworen. Vielleicht hätte er sogar noch ein dunkles Haar von Theresa auf dem Kopfkissen gefunden, das ihm beweisen konnte, dass sie tatsächlich dort mit ihm gelegen hatte!

Doch diese Pläne waren abwegig. Es dauerte noch fast zwei Monate, bis das Semester wieder los ging. Seine Mutter würde ihn für durchgedreht halten und wahrscheinlich Tobsuchtsanfälle bekommen, wenn er so ohne triftigen Grund in die Stadt fahren würde. Außerdem: Theresa wäre ja sowieso nicht da – also wozu das alles? Da war es doch besser, er konnte sich hier ab und zu mit seinen Kumpels treffen und sich ansonsten mit Bergtouren vom Lernen und seinen krausen Gedanken ablenken. Aber diesmal würde er nicht bis zum letzten Tag hier bleiben, denn wenn überhaupt, dann konnte Theresa nur in ihren Herbstferien bei Dagmar sein: Davon musste er unbedingt ein paar Tage in München erwischen und sich Gewissheit verschaffen, ob sie auch noch etwas für ihn empfand. Ein plausibler Grund für seine Mutter würde ihm dann schon noch einfallen, wenn es so weit wäre.

***

„Schon putzig, die Zwei, gell?“ Xerxes zupfte sich einen faserigen Wolkenrest zwischen den Zehen heraus und schnipste ihn weg.

„Ja“, seufzte Spekulatius, „zu schön. Das könnte man glatt noch ein bisschen auskosten!“

***

Herbst 1983

Mit freudigem Herzklopfen nahm Theresa das Bahnticket am Fahrkartenschalter entgegen. Bonn – München, hin und zurück, mit einem Aufenthalt von fast zehn Tagen. Wenn das nicht ausreichen sollte, Simon dort über den Weg zu laufen! Selbst wenn seine Vorlesungen erst nach ihren Herbstferien starteten - er würde doch wohl kaum bis zum letzten Tag in seinem Berchtesgadener Kaff bleiben!

Sie war furchtbar gespannt auf das Wiedersehen. Ob sie immer noch so hingerissen wäre von seinen blauen Augen, seinem strahlenden Lächeln und seinem athletischen Körperbau?

Noch drei Tage Schule, dann konnte sie ihren Rucksack schnappen und Richtung Süden aufbrechen. Endlich raus aus der Enge des Elternhauses. In den letzten Monaten hatte sie die Situation zuhause immer mehr genervt. Alles war geregelt, sie musste pünktlich zum Essen erscheinen, ständig ihr Zimmer aufräumen – keine Spur von der Freiheit, die ihr doch eigentlich mit ihren 18 Jahren zustand. Die Tage in Dagmars WG würde sie dagegen genießen wie immer: kein Zeitplan, niemand, der etwas von ihr wollte. Sie könnte ungestört ein bisschen lernen, gemütlich auf dem Wohnzimmerboden vor der Heizung. Sie könnte stundenlang lesen oder auf dem alten Klavier spielen, und sie dürfte alle ihre Sachen herumliegen lassen. Wenn ihr danach wäre, würde sie durch die Innenstadt streifen, ins Schwimmbad fahren oder im Englischen Garten spazieren gehen – und irgendwann würde sie Simon gegenüberstehen und endlich, endlich wissen, ob ihr Zusammensein im Sommer bei ihm auch so bombenmäßig eingeschlagen hatte wie bei ihr.

***

Über die Dächer von München pfiff der Herbstwind.

„Tja“, Spekulatius baumelte mit den Beinen. „Wenn dein Simon bis zum Vorlesungsbeginn zuhause in seinen Bergen bleibt, wird’s wohl nichts mit dem Treffen?!“

„Ja mei“, antwortete Xerxes, der gelegentlich den bayrischen Tonfall seines Schützlings übernahm, „das ist halt so bei den Einheimischen. Da hätte keiner aus seiner Familie Verständnis, wenn er so ohne Grund in die Stadt fahren würde!“

„Irgendwie trotzdem schade. Jetzt muss die arme Theresa die ganzen Herbstferien erfolglos in der Münchner WG herumlungern.“

„Ah geh – a bisserl Warten hat noch keinem geschadet. Das muss der Simon schließlich auch aushalten. Sie haben doch noch alle Zeit der Welt!“

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Theresa starrte das Telefon an. Wie öde und trostlos ihr München vorkam ohne Simon! Sie hatte sich so gefreut, wieder herzukommen, war sich sicher gewesen, ihm zu begegnen. Und nun? Fünf düstere Oktobertage hockte sie schon hier, traute sich kaum, einen Schritt aus der Wohnung zu machen, um ihn nicht zu verpassen. Dagmar oder einen der anderen Mitbewohner nach ihm zu fragen, traute sie sich immer noch nicht. Keiner würde damit rechnen, dass sie sich in irgendeiner Weise für den Berchtesgadener Seppl interessierte, der sowieso die meiste Zeit über seinen Mathebüchern hing.

Nicht aufgeben, sagte sie sich immer wieder. Sie hatte noch die ganze nächste Woche hier. Er MUSSTE doch einfach herkommen, wenn ihm etwas an ihr lag!

***

Simon ließ sich auf den Fahrersitz fallen, knallte die Autotür zu und fuhr mit aufjaulendem Motor die Auffahrt hinauf. Ohne den Blick noch einmal dem elterlichen Haus und seiner Mutter zuzuwenden, die mit ärgerlichem Gesichtsausdruck in der Tür stand, brauste er davon. So ein Mist! Dass sie aber auch immer dazwischen funken musste! Schon vorgestern hatte er nach München fahren wollen, hatte ihr glaubhaft gemacht, dass er auf jeden Fall diese Woche schon mal zur Uni musste und die Ergebnisse seiner Klausur erfahren. Es war sogar ohne allzu großes Gezeter zugegangen, alles schien geregelt zu sein, und er war vor Aufregung völlig außer sich gewesen. Aber dann war seiner Mutter natürlich noch etwas eingefallen: angeblich fühlte sie sich nicht wohl und er musste sie zum Arzt fahren. Nicht nur einmal, nein, dreimal! Vorgestern, gestern und heute früh noch einmal! So ein Schwachsinn – seine Mutter war pumperlgesund! Wütend drückte Simon auf die Hupe, um eine Kuh zu verscheuchen, die am Straßenrand stand und ihn dämlich anglotzte. Manchmal hasste er es, ein Einzelkind zu sein und sich zuhause um alles kümmern zu müssen.

In abenteuerlicher Geschwindigkeit fuhr er die gewundene Bergstraße hinunter. Heute war schon Freitag, aber vielleicht hatte er ja Glück. Wenn Theresa erst am Montag wieder zur Schule musste, blieb sie ja vielleicht bis Sonntag? Das wären noch zwei ganze Nächte! Naja - vorausgesetzt, sie war überhaupt in München…

***

„Armer Simon, arme Theresa. Aber so junge Leute brauchen gelegentlich ein paar Seelenqualen zum Reifen, findest du nicht?“

Xerxes nickte.

Damit lehnten sich die beiden Schutzengel wieder über den Wolkenrand und beobachteten aufmerksam den orangefarbenen Renault 4, der sich auf der A8 aus Richtung Salzburg langsam der Münchner Innenstadt näherte, während sich gleichzeitig auf Gleis 9 am Münchener Hauptbahnhof die Türen des Intercity in Richtung Bonn schlossen.

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„Hallo Simon“, begrüßte ihn Dagmar in der Münchner Altbauwohnung. „Geht’s schon wieder los in der Uni?“

„Na, net direkt“, wich er aus und inspizierte aus den Augenwinkeln das Umfeld nach weiteren Personen. „Aber Prüfungsergebnisse und den Stundenplan wollt’ i anschaun.“ Jetzt warf er einen kurzen, hoffentlich unauffälligen Suchblick den Gang entlang. „Und...Vorbereiten aufs Semester geht hier besser wie daheim“. Von Theresa war nichts zu sehen.

„Ja, hier ist gerade wieder Ruhe eingekehrt“, berichtete Dagmar, „da kannst du gut arbeiten. Bis heute früh war noch meine Nichte hier.“

Wenn sie gewusst hätte, was für einen Erdrutsch dieser Satz in seinem Inneren auslöste! Die Bestürzung überfiel ihn so heftig, dass er sich eilig abwendete und in sein Zimmer flüchtete. Tür zu – die Tasche in die Ecke gepfeffert. Bis heute früh war sie noch da gewesen! Warum war er bloß nicht früher gekommen! Er ging zum Fenster, drückte die Stirn an die harte kalte Scheibe und starrte missmutig nach draußen auf die vorbeifahrenden Straßenbahnen.

***

„Komm, wir gehen einen trinken!“, schlug Xerxes seinem Freund vor. „Das kann man ja nicht mit ansehen!“

Die beiden rappelten sich von ihrem Sitzplatz auf und schlenderten in Richtung ihrer Lieblings-Bar »Zur Himmelspforte« auf der Nachbarwolke.

„Was meinst du, wie lange sollen wir die beiden zappeln lassen?“, fragte Spekulatius, als sie schließlich vor gefüllten Bechern saßen. Xerxes nippte nachdenklich an seinem Nektar.

„Weihnachten kann der Simon auf keinen Fall von daheim weg“, überlegte er. „Also Ostern? Oder wir machen grad das Jahr voll und warten bis zum Sommer!“

„Hm...“ Spekulatius schien nicht begeistert. „Ich bin mir nicht sicher, ob Theresa so lang durchhält. Andererseits...“ Den Rest seines Satzes verschluckte eine vorbeirauschende Regenwolke.

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